Dearest Anne, with her wonderful post Patient Trust (Prayers For The Unemployed And Those In Transition) …, greatly inspired me to share here with you
Rainer Maria Rilke’s
Brief 6 aus Briefe an einen jungen Dichter
Letter 6 of Letters to a Young Poet
Love and Blessings
through Leon
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🙏
Rom, am 23. Dezember 1903
Mein lieber Herr Kappus,
Sie sollen nicht ohne einen Gruß von mir sein, wenn es Weihnachten wird und wenn Sie, inmitten des Festes, Ihre Einsamkeit schwerer tragen als sonst. Aber wenn Sie dann merken, daß sie groß ist, so freuen Sie sich dessen; denn was (so fragen Sie sich) wäre eine Einsamkeit, welche nicht Größe hätte; es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und ist nicht leicht zu tragen, und es kommen fast allen die Stunden, da Sie sie gerne vertauschen möchten gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächstbesten, mit dem Unwürdigsten … Aber vielleicht sind das gerade die Stunden, wo die Einsamkeit wächst; denn ihr Wachsen ist schmerzhaft wie das Wachsen der Knaben und traurig wie der Anfang der Frühlinge. Aber das darf Sie nicht irre machen. Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit. In-sich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen, – das muß man erreichen können. Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftigt aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff.
Und wenn man eines Tages einsieht, daß ihre Beschäftigungen armselig, ihre Berufe erstarrt und mit dem Leben nicht mehr verbunden sind, warum dann nicht weiter wie ein Kind darauf hinsehen als auf ein Fremdes, aus der Tiefe der eigenen Welt heraus, aus der Weite der eigenen Einsamkeit, die selber Arbeit ist und Rang und Beruf? Warum eines Kindes weises Nicht-Verstehen vertauschen wollen gegen Abwehr und Verachtung, da doch Nicht-Verstehen Alleinsein ist, Abwehr und Verachtung aber Teilnahme an dem, wovon man sich mit diesen Mitteln scheiden will.
Denken Sie, lieber Herr, an die Welt, die Sie in sich tragen, und nennen Sie dieses Denken, wie Sie wollen; mag es Erinnerung an die eigene Kindheit sein oder Sehnsucht zur eigenen Zukunft hin, – nur seien Sie aufmerksam gegen das, was in Ihnen aufsteht, und stellen Sie es über alles, was Sie um sich bemerken. Ihr innerstes Geschehen ist Ihrer ganzen Liebe wert, an ihm müssen Sie irgendwie arbeiten und nicht zu viel Zeit und zu viel Mut damit verlieren, Ihre Stellung zu den Menschen aufzuklären. Wer sagt Ihnen denn, daß Sie überhaupt eine haben?
Ich weiß, Ihr Beruf ist hart und voll Widerspruch gegen Sie, und ich sah Ihre Klage voraus und wußte, daß sie kommen würde. Nun sie gekommen ist, kann ich Sie nicht beruhigen, ich kann Ihnen nur raten, zu überlegen, ob nicht alle Berufe so sind, voll von Ansprüchen, voll Feindschaft gegen den einzelnen, vollgesogen gleichsam mit dem Haß derer, die sich stumm und mürrisch in die nüchterne Pflicht gefunden haben. Der Stand, in dem Sie jetzt leben müssen, ist nicht schwerer mit Konventionen, Vorurteilen und Irrtümern belastet als alle die anderen Stände, und wenn es welche gibt, die eine größere Freiheit zur Schau tragen, so gibt es doch keinen, der in sich weit und geräumig und mit den großen Dingen, aus denen das wirkliche Leben besteht, in Beziehung ist. Nur der einzelne, der einsam ist, ist wie ein Ding unter die tiefen Gesetze gestellt, und wenn einer hinausgeht in den Morgen, der anhebt, oder hinaus in den Abend schaut, der voll Ereignis ist, und wenn er fühlt, was da geschieht, so fällt aller Stand von ihm ab, wie von einem Toten, obwohl er mitten in lauter Leben steht. Was Sie, lieber Herr Kappus, jetzt als Offizier erfahren müssen, Sie hätten es ähnlich in jedem der bestehenden Berufe gefühlt, ja sogar wenn Sie, außerhalb jeder Stellung, mit der Gesellschaft allein leichte und selbständige Berührung gesucht hätten, würde ihnen dieses beengende Gefühlt nicht erspart geblieben sein.
Es ist überall so; aber das ist kein Grund zu Angst oder Traurigkeit; wenn keine Gemeinsamkeit zwischen den Menschen ist und Ihnen, versuchen Sie es, den Dingen nahe zu sein, die Sie nicht verlassen werden; noch sind die Nächte da und die Winde, die durch die Bäume gehen und über viele Länder; noch ist unter den Dingen und bei den Tieren alles voll Geschehen, daran Sie teilnehmen dürfen; und die Kinder sind noch so, wie Sie gewesen sind als Kind, so traurig und glücklich, – und wenn Sie an Ihre Kindheit denken, dann leben Sie wieder unter ihnen, unter den einsamen Kindern, und die Erwachsenen sind nichts, und ihre Würde hat keinen Wert.
Und wenn es Ihnen bang und quälend ist, an die Kindheit zu denken und an das Einfache und Stille, das mit ihr zusammenhängt, weil Sie an Gott nicht mehr glauben können der überall darin vorkommt, dann fragen Sie sich, lieber Herr Kappus, ob Sie Gott denn wirklich verloren haben. Ist es nicht vielmehr so, daß Sie ihn noch nie besessen haben? Denn wann sollte das gewesen sein? Glauben Sie, ein Kind kann ihn halten, ihn den Männer nur mit Mühe tragen und dessen Gewicht die Greise zusammendrückt? Glauben Sie, es könnte, wer ihn wirklich hat, ihn verlieren wie einen kleinen Stein, oder meinen Sie nicht auch, wer ihn hätte, könnte nur noch von ihm verloren werden? –
Wenn Sie aber erkennen, daß er in Ihrer Kindheit nicht war, und nicht vorher, wenn Sie ahnen, daß Christus getäuscht worden ist von seiner Sehnsucht und Muhammed betrogen von seinem Stolze, – und wenn Sie mit Schrecken fühlen, daß er auch jetzt nicht ist, in dieser Stunde da wir von ihm reden, – was berechtigt Sie dann, ihn, welcher niemals war, wie einen Vergangenen zu vermissen und zu suchen, als ob er verlören wäre?
Warum denken Sie nicht, daß er der Kommende ist, der von Ewigkeit her bevorsteht, der Zukünftige, die endliche Frucht eines Baumes, dessen Blätter wir sind? Was hält Sie ab, seine Geburt hinauszuwerfen in die werdenden Zeiten und Ihr Leben zu leben wie einen schmerzhaften und schönen Tag in der Geschichte einer großen Schwangerschaft? Sehen Sie denn nicht, wie alles, was geschieht, immer wieder Anfang ist, und könnte es nicht Sein Anfang sein, da doch Beginn an sich immer so schön ist? Wenn er der Vollkommenste ist, muß nicht Geringeres vor ihm sein, damit er sich auswählen kann aus Fülle und Überfluß? Muß er nicht der Letzte sein, um alles in sich zu umfassen, und welchen Sinn hätten wir, wenn der, nach dem wir verlangen, schon gewesen wäre?
Wie die Bienen den Honig zusammentragen, so holen wir das Süßeste aus allem und bauen Ihn. Mit dem Geringen sogar, mit dem Unscheinbaren (wenn es nur aus Liebe geschieht) fangen wir an, mit der Arbeit und mit dem Ruhen hernach, mit einem Schweigen oder mit einer kleinen einsamen Freude, mit allem, was wir allein, ohne Teilnehmer und Anhänger tun, beginnen wir Ihn, den wir nicht erleben werden, so wenig unsere Vorfahren uns erleben konnten. Und doch sind sie, diese Langvergangenen, in uns, als Anlage, als Last auf unserem Schicksal, als Blut, das rauscht, und als Gebärde, die aufsteigt aus den Tiefen der Zeit.
Gibt es etwas, was Ihnen die Hoffnung nehmen kann, so einstens in Ihm, in dem Fernsten, Äußersten zu sein? Feiern Sie, lieber Herr Kappus, Weihnachten in diesem frommen Gefühl, daß Er vielleicht gerade diese Lebensangst von Ihnen braucht, um zu beginnen; gerade diese Tage Ihres Überganges sind vielleicht die Zeit, da alles in Ihnen an Ihm arbeitet, wie Sie schon einmal, als Kind, atemlos an Ihm gearbeitet haben. Seien Sie geduldig und ohne Unwillen und denken Sie, daß das wenigste, was wir tun können, ist, Ihm das Werden nicht schwerer zu machen, als die Erde es dem Frühling macht, wenn er kommen will.
Und seien Sie froh und getrost.
Ihr:
Rainer Maria Rilke
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Rome, December 23, 1903
My dear Mr. Kappus,
I don’t want you to be without a greeting from me when Christmas comes and when you, in the midst of the holiday, are bearing your solitude more heavily than usual. But when you notice that it is vast, you should be happy; for what (you should ask yourself) would a solitude be, that was not vast; there is only one solitude, and it is vast, heavy, difficult to bear, and almost everyone has hours when he would gladly exchange it for any kind of sociability, however trivial or cheap, for the tiniest outward agreement with the first person who comes along, the most unworthy. But perhaps these are the very hours during which solitude grows; for its growing is painful as the growing of boys and sad as the beginning of spring. But that must not confuse you. What is necessary, after all, is only this: solitude, vast inner solitude. To walk inside yourself and meet no one for hours – that is what you must be able to attain. To be solitary as you were when you were a child, when the grownups walked around involved with matters that seemed large and important because they looked so busy and because you didn’t understand a thing about what they were doing.
And when you realize that their activities are shabby, that their vocations are petrified and no longer connected with life, why not then continue to look upon it all as a child would, as if you were looking at something unfamiliar, out of the depths of your own world, from the vastness of your own solitude, which is itself work and status and vocation? Why should you want to give up a child’s wise not-understanding in exchange for defensiveness and scorn, since not understanding is, after all, a way of being alone, whereas defensiveness and scorn are a participation in precisely what, by these means, you want to separate yourself from.
Think, dear Sir, of the world that you carry inside you, and call this thinking whatever you want to: a remembering of your own childhood or a yearning toward a future of your own – only be attentive to what is arising within you, and place that above everything you perceive around you. What is happening in your innermost self is worthy of your entire love; somehow you must find a way to work at it, and not lose too much time or too much courage in clarifying your attitude toward people. Who says that you have any attitude at all? l know, your profession is hard and full of things that contradict you, and I foresaw your lament and knew that it would come. Now that it has come, there is nothing I can say to reassure you, I can only suggest that perhaps all professions are like that, filled with demands, filled with hostility toward the individual, saturated as it were with the hatred of those who find themselves mute and sullen in an insipid duty. The situation you must live in now, is not more heavily burdened with conventions, prejudices, and false ideas than all the other situations, and if there are some that pretend to offer a greater freedom, there is nevertheless none that is, in itself, vast and spacious and connected to the important Things that the truest kind of life consists of. Only the individual who is solitary is placed under the deepest laws like a Thing, and when he walks out into the rising dawn or looks out into the event-filled evening and when he feels what is happening there, all situations drop from him as if from a dead man, though he stands in the midst of pure life. What you, dear Mr. Kappus, now have to experience as an officer, you would have felt in just the same way in any of the established professions; yes, even if, outside any position, you had simply tried to find some easy and independent contact with society, this feeling of being hemmed in would not have been spared you. It is like this everywhere; but that is no cause for anxiety or sadness; if there is nothing you can share with other people, try to be close to Things; they will not abandon you; and the nights are still there, and the winds that move through the trees and across many lands; everything in the world of Things and animals is still filled with happening, which you can take part in; and children are still the way you yourself were as a child, sad and happy in just the same way, and if you think of your childhood, you once again live among them, among the solitary children, and the grownups are nothing, and their dignity has no value.
And if it frightens and torments you to think of childhood and of the simplicity and silence that accompanies it, because you can no longer believe in God, who appears in it everywhere, then ask yourself, dear Mr. Kappus, whether you have really lost God. Isn’t it much truer to say that you have never yet possessed him? For when could that have been? Do you think that a child can hold him, him whom grown men bear only with great effort and whose weight crushes the old? Do you suppose that someone who really has him could lose him like a little stone? Or don’t you think that someone who once had him could only be lost by him? But if you realize that he did not exist in your childhood, and did not exist previously, if you suspect that Christ was deluded by his yearning and Muhammad deceived by his pride – and if you are terrified to feel that even now he does not exist, even at this moment when we are talking about him – what justifies you then, if he never existed, in missing him like someone who has passed away and in searching for him as though he were lost?
Why don’t you think of him as the one who is coming, who has been approaching from all eternity, the one who will someday arrive, the ultimate fruit of a tree whose leaves we are? What keeps you from projecting his birth into the ages that are coming into existence, and living your life as a painful and lovely day in the history of a great pregnancy? Don’t you see how everything that happens is again and again a beginning, and couldn’t it be His beginning, since, in itself, starting is always so beautiful? If he is the most perfect one, must not what is less perfect precede him, so that he can choose himself out of fullness and superabundance? Must he not be the last one, so that he can include everything in himself, and what meaning would we have if he whom we are longing for has already existed?
As bees gather honey, so we collect what is sweetest out of all things and build Him. Even with the trivial, with the insignificant (as long as it is done out of love) we begin, with work and with the repose that comes afterward, with a silence or with a small solitary joy, with everything that we do alone, without anyone to join or help us, we start Him whom we will not live to see, just as our ancestors could not live to see us. And yet they, who passed away long ago, still exist in us, as predisposition, as burden upon our fate, as murmuring blood, and as gesture that rises up from the depths of time.
Is there anything that can deprive you of the hope that in this way you will someday exist in Him who is the farthest, the outermost limit?
Dear Mr. Kappus, celebrate Christmas in this devout feeling, that perhaps He needs this very anguish of yours in order to begin; these very days of your transition are perhaps the time when everything in you is working at Him, as you once worked at Him in your childhood, breathlessly. Be patient and without bitterness, and realize that the least we can do is to make coming into existence no more difficult for Him than the earth does for spring when it wants to come.
And be glad and confident.
Yours,
Rainer Maria Rilke
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🙏
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